Facettenreiches Selbstporträt aus dem Land des Zaubers: Die Solo-CD "Open Range" von Kevin Hays
Der Titel "Open Range" trifft bestens, was in diesen ungewöhnlichen Aufnahmen des amerikanischen Pianisten Kevin Hays zu hören ist. Eine enorm große Spannweite an Ausdrucksformen tut sich darin auf. Hays zeigt sich dabei offen für viele musikalische Einflüsse und klangliche Ideen. "Open Range" ist kein Klavier-Solo-Album im ganz strengen Sinn, sondern - um es spitzfindig zu sagen - ein um andere Elemente erweitertes Solo-Album eines Pianisten. Hays singt darauf auch, fügt eine gesampelte Streicherstimme ein oder legt die Klänge eines Flügels und eines Fender-Rhodes-Pianos übereinander.
Dabei entsteht ein enorm vielfarbiges Selbstporträt des 1968 in New York City geborenen amerikanischen Musikers, der etwa mit Kollegen wie Bob Belden, George Coleman, Benny Golson, Roy Haynes, Joe Henderson, Vincent Herring, Joshua Redman, Sonny Rollins und John Scofield zusammengespielt hat. Hays blickt inzwischen auf eine höchst beachtliche Karriere zurück. Bereits mit 15 arbeitete er als professioneller Musiker, mit 17 spielte er bei Baritonsaxophonist Nick Brignola; seine CDs unter eigenem Namen, nicht zuletzt "Andalucia" von 1997 mit Jack DeJohnette und Ron Carter, das vier der begehrten Sterne des Down-Beat-Magazins erhielt, fanden weite Beachtung.
Das Album "Open Range" nun zeigt völlig neue Facetten von Kevin Hays’ Musik, und das liegt mit an der neuen Lebenssituation des Pianisten. Nach 15 Jahren New York City zog der Musiker nach Santa Fe in New Mexico. "Ich brauchte einfach einen Tapetenwechsel", sagt er, "und die neue Umgebung spiegelt sich gewiss in der Musik wider". Er lebe etwas außerhalb der Stadt und sehe jeden Tag, warum New Mexico das "land of enchantment", das Land des Zaubers genannt wird. "Hier gibt es wirklich unglaubliche Sonnenuntergänge, das Licht und der Himmel sind erstaunlich." Seine jetzige Lebenswelt sei ein totaler Kontrast gegenüber seiner früheren, New York, er genieße die Einsamkeit und die Berge. "Und dann gibt es hier zum Beispiel Kolibris und Steppenläufer (humming birds und tumbleweeds)".
Nach dieser Schilderung wundert es einen nicht, dass die Stücke auf "Open Range" so viele introspektive Momente enthalten und so viel Ruhe ausstrahlen, aus der sich immer neue Klangfacetten entwickeln. Da ist etwa das stark kontrapunktisch geprägte Eröffnungsstück "Open Range", das mit Trillern über absteigenden Basslinien fast wie eine Hommage an Barockmusik anmutet. In "Homestead" schwingt im Hintergrund ein geisterhaftes Echo zur Hauptstimme des Klaviers mit, ergänzt durch wie spukhaft erscheinende Gesangsstimmen. Traditionelle Gesänge einer Indianerin hat Hays in das Stück "Humming Bird Song" eingearbeitet – mit ganz ruhig fortschreitenden Akkorden wird er zum Begleiter der Gesangsstimme, die er aus einer wissenschaftlichen Aufnahme entlehnte und die ihn faszinierte. Den Song "You Are My Sunshine" singt Hays selbst – am Ende mit zwei übereinander gelegten Stimmen - in einer langsamen, bluesgetränkten Reflexion, bei der schließlich auch per Sampling eine Streicherstimme vorkommt, und macht sich dabei musikalisch ganz frei vom Originalstück: "Ich legte meine Finger auf die Tasten und schaute, was passiert", erklärt er das Zustandekommen dieser Interpretation.
In manchen Stücken, etwa der "Improvisation", im "Fire Dance" oder in "Sacred Circles" wird klar, was Hays meint, wenn er sagt, es interessiere ihn besonders, "eine Balance zwischen vertrauten und ungewohnten Harmonien zu finden": Leicht greifbare Harmonien schlagen dabei immer wieder um in sperrigere, wodurch sich eine spannende Irritation herstellt. In "Meditation" bleibt er hingegen immer auf einem einzigen Akkord, vorgegeben durch dröhnende Bässe, über denen Gesangsstimmen und ein Fender-Rhodes-Piano den Hörer in eine Sphäre magischer Kontemplation ziehen. Und mit Geräusch-Zuspielungen beginnt das Stück "Harmonium", in dem Hays die Klaviersaiten während des Spiels an wechselnden Positionen dämpft und damit einen schillernden Tanz der Obertöne erzeugt.
Klänge erforschen zu können, ein immer neues Spiel mit der Form, der Harmonik, den Metren zu treiben und die Musik dabei auch zu einem persönlichen Statement werden zu lassen: Das findet Kevin Hays die große Chance bei Solo-Aufnahmen im Studio. "Man hat die Möglichkeit, der Intuition zu folgen, Momentaufnahmen von sich selbst und von musikalischen Ideen zu machen. Aus der Beschränkung auf einen einzigen Musiker kann eine enorme Freiheit erwachsen." Diese Freiheit hat Hays in den elf Stücken von "Open Range" auf viele verschiedene Arten genutzt. Fast pointillistisch setzt sich sein Solo-Selbstporträt zusammen und ergibt ein geschlossenes Bild, vor dem man lange verweilen kann, um dabei immer neue Farb- und Formwirkungen zu entdecken. "Open Range" eben – auch für den Betrachter und Hörer.